V. Karady                                                                 München, 19. Dez. 2006

 

Budapester Judentum

 

Warum ist das Judentum der ungarischen Hauptstadt historisch gesehen interessant ?

 

Seine geschichtlich entstandene Eigenart könnte unter den folgenden Rubriken zusammengefasst werden :

 

-          seit dem ausgehenden 19. Jh bis in die Zwischenkriegszeit war diese die zweitgrösste jüdische Stadtgemeinde in Europa  (S. Tabelle auch !)

o       (nach Warschau : 1918 = 320.000 – 42 %)

o       Wien, 1923 – 201.000 ung. 10 %,  1936 = 176.000, 8 %

o       Berlin 1925 = 172.000 – 4,2 %

§         Aber NYork 1900 = 580.000 – 11 %,  1920 = 1,6 Millionen – 29 %

§          

-          Bp war sicherlich das überhaupt grösste und das östlichste Zentrum jüdischer Modernisierung und Assimilation in Europa vor dem 1. Weltkrieg

In der selben Reihe wie Berlin, Frankfurt, Wien, Prag, Paris, London

 

-          nur hat sich dieser Prozess (Vorgang) der Modernisierung in einer noch weitgehend unmodernen, unterentwickelten Gesellschaft und in der Mitte einer mehrheitlich nach der Orthodoxie orientierten (eingestellten) Jüdischen Bevölkerung vollgebracht worden

o       entgegen den westlicheren Parallelfällen

 

1. Siedlungsgeschichte

           

3 Stadtteilen bis 1873

            Buda – königlicher Sitz, mit Recht Juden nicht zuzulassen, bis 1783 praktisch

’Judenfrei’, keine Industrietatigkeit, wenige Juden auch weiterhin

 

Óbuda            - aristokratischer Grundstück (der Grafen Zichy), später königliches Besitztum wo eine jüdische Gemeinde (gegen hohe Steuer) seit lange zugelassen war

                        - bis zur Schoah unabhängige Gemeinde, aber verlor an Bedeutung

 

Pest – freie königliche Stadt mit Juden aber in unsicherer und immer wieder bedrohten

Lage, bis Joseph II. – ’Toleranzpatent’ 1782

o       auch gegen stadtischen Widerstand, grosse und beschleunigte Einwanderung – vor allem vom Westen und Norden

o       Beschleunigung seit dem 1840-er ’Halb-emanzipationsgesetz’, das – unter Anderen - die freie Niederlassung von Juden in Städten (ausserhalb der privilegierten Bergbaustädten) vorsah (sicherte)

o       Das Zentrum von Pest wurde bald – wie sichtbar an der Tabelle – die absolut grösste Konzentration von städtischen Juden im Lande

 

Territoriale Struktur an der Tabelle sichtbar

            Über 60 % der jüdischen Bevölkerung in den 4 zentralen Bezirken

            Ursachen dieser Konzentration : mehrfache

                        - Sicherheit (immer in der Nahe des Sitzes der öffentlichen Macht)

- Soziabilität, Gesellschafts- und Gemeindeleben : Tempel, Theater, Oper, Schulen, Uni auch im Zentrum

- bessere, neuere Wohnungen (nach dem Abreissen der alten Häuser)

- Geschäftszentren auch in der Mitte

 

Wachstum nach der Tabelle

-          hohes Gewicht der Stadt innerhalb der Juden Ungarns

 

Sehr schneller demographischer Übergang bei Juden in Bp.

                       

                                   Geburten       Todesfälle

                             Juden  Cristen    Juden   Christen

 

1880                      31,1       39,3        18,7       38,7

1900                      28,8       35,0        14,0      23,3

1910                      19,5       27,1        12,9      20,0

1930                       9,2        18,5        14,5      15,5

1939                       4,9        18,9         16,4     15,2

 

Auch andere Zeichen schneller demographischer Modernisierung

-          Scheidungsfrequenz viel höher

-          Aussereheliche Geburtsrate sehr niedrig

-          Verspätetes Heiratsalter bei Frauen und Männern

- wenige infektiöse Krankheiten, wenige Tuberkulose, wenig Alkoholismus, usw. (diese sind aber allgemeine Kenzeichnen der demographischen Modernität im europäischen Judentum)

 

Wohnungsverhältnissen auch viel besser als in der restlichen Bevölkerung

 

-          In 1939 28 % der Juden in 3 Zimmer oder in grösseren Wohnungen gegen 14,4 % der Christen            

-          Diese Unterschiede zu Gunsten der Juden widerfindet man in jeder Berufsgruppe. Zwei einander nich ausschliessende Deutungen :

o       Juden gaben für Wohnungen mehr aus, da die Wohnung stellte ein erstklassiges ’Mobilitätsgut’ dar (ein Mittel beruflichen Aufstiegs durch Schulung, bürgerlichen Lebensweise, z.B.)

§         3 Zimmer Wohnung = das Minimum für Mitglieder der ’herrischen’ Mittelklasse

o       Juden stellten in jeder Berufsgruppe eher die Elite dar (mit relativ mehr Mittel ausgestattet als ihre Berufsgenossen)

           

-          wegen des hohen Anteils der Juden unter Architekten, das Zentrum von Pest wurde weitgehends von jüdischen Architekten, Unternehmern gebaut

o       Beispiel : die ganze Andrássy Strasse (mit der Oper, dem Theaterbezirk, usw.)

-          Die Tempel im inneren Bezirken seit 1858 (Dohány-Tempel, zweitgrösste Europas)

 

 

 

2. Nationale Assimilation und gesellschaftliche Eingliederung

 

Allgemeine Bedingungen der Assimilationsbereitschaft

           

-          äussere Bedingungen :

o       Atmosphäre staatlicher Toleranz gegen Juden

§         Ein multi-ethnisches Gesellschaftsgebilde mit nur eine Minderheit von Magyaren im Lande (um 40-43 %) ausserhalb des Adels

·         Daher grosses Problem des Ausbaus des Nationalstaates in einer mehrheitlich ethnisch nicht magyarischen Bevölkerung (’tituläre’ Elite in Minderheit !)

§         Keine religiöse Mehrheit (mit 47 % Römisch-Katholiker und starken protestantischen Gruppen in der adeligen Elite

·         Daher auch weniger religiöser Intoleranz

·          

o       im Prozess der Ausbildung des Nationalstaates diese ausgesprochen liberale, gemischt protestantisch-katolische Elite brauchte Verbündeten - wie Juden

§         die die Aufgaben bürgerlicher Modernisierung : Industrialisierung usw. verrichten (ausführen) in der Lage waren (da sie selbst waren dazu unfähig ! ausserhalb die Ausübung von Herrschaft)

§         die ihre magyarisch-nationale Vorherrschaft nicht geneigt waren zu gefährden (wie die meisten anderen, mit staatsgründenden Nationalitäten verwandten Minderheiten)

§         daher der ’assimilatorischer Gesellschaftsvertrag’ mit einem Angebot von Eingliederung der Minderheiten in der nationalen Elite gegen Unterstützung des Staatenbildungsprozesses

§         Daher der liberaler Staat und die liberale Bahandlung der assimilationsbereiten Minderheiten

·         Vor allem Juden, manche Deutschen und Slowaken

§         frühe Versuche von Judenemanzipation (früher als in Österreich)

·         1840 Halb-Emanzipation der Juden

·         1849 Juni formelle Gleichstellung bevor die Revolutionäre Regierung gestürzt war

·         1867 endgültige Emanzipation

·         1895 Gleichstellung der jüdischen Religionsgemeinde zur ’rezipierten’ (staatlich beförderten) Kirchen

 

-          inner-jüdische Bedingungen :

o       Einwanderung grossenteils vom Westen und vom Zentrum des Landes, von deutschsprachigen, westlichen Juden, die häufig von der Haskalah stark berührt oder beeinflusst waren

o       Selektive Einsiedlung von unternehmerisch eingestellten, mobilitätsfähige und modernitätssuchende ’strategische’ Immigranten

o       Die Stadt wurde sehr früh, schon im Reformzeitalter (Vormärz), Zentrum des ’modernen’ Judentums Ungarns

§         Frühe religiöse Reformbewegung in den 1840-er Jahren

§         Gleichzeitige Entstehung in Pest der jüdischen Magyarisierungsbewegung (’Magyarisierender Kreis’)

-          einmalige Interesse der Juden sich an eine die Integration anbietende und die jüdische Integration benötigende nationale Elite – wie der liberale Adel in Ungarn – anzuschliessen und am Rande dieser Elite sich einzubürgern, da solche Möglichkeit war im 19. Jh. nur in Westeuropa vorhanden, aber nirgendwo in Mitteleuropa

o       mit der möglichen Ausnahme der Deutschen in Prag : aber diese war eben keine Elite eines Nationalstaates

o       daher erklart sich, endlich, eine Anzahl von jüdischen Verhaltensweisen und Verhaltenstrategien die alle die best- und schnellstmögliche nationale Integration anstrebten

 

Sprachliche Magyarisierung

-          eine wesentlich deutschsprachige Stadt wurde in einer halben Jh fast völlig

magyarsprachig

                        Röm. Katholiker  Lutheraner        Juden

            1880             48,4                 51,8                61,0

            1910             83,9                 78,9                90,1

 

-          dabei blieben die Juden viel mehr ’mehsprachig’ mit fast 1,8 gekannten Sprachen gegen die Stadtdurchschnitt von 1,3 in 1910

 

Namenmagyarisierung

            -in 1894-1918 cc. 60 % aller Namenwechsel fiel auf Juden

            - daher fast die Halfte (45 %) der jüdischen Namenmagyarisierenden lebte in Budapest

            - nach 1919 wurde als gegen-assimilatorische Massnahme diese Bewegung für Juden

wenn nicht untersagt, aber wesentlich erschwert

 

Gemischte Ehen

            - eine radikale Form von gesellschaftliche Integration, Abwechslung von Verbündeten

-          eine ziemlich radikale Art von Selbstaufgabe als Jude als man die Kontinuität

     jüdischer Identität in der Nachkommenschaft aufgibt

-          mehr bei jüdischen Männern als bei Frauen

o       von 6,8 % bei Mannern in 1895-1900 zu 25-31 % in 1914-1918 (Budapest)

o       von 15 % in 1920 zu 20 % in 1937 (letztes Jahr ohne Judengesetz)

o       weniger allerdings als in Berlin, Prag, Trieste oder München…

 

Konversion, (Taufe)

-          eine relativ seltene Handlungsart, weniger als 0,5 pro Tausend jährlich vor 1919

-          wenig Druck, Zivilehe seit 1895 möglich

-          grosse Menge in antisemitischen Krisensituationen :

o       1919-1920 (fast 7000 in Budapest)

o        oder nach 1937 (3000-8000 jährlich) – 60-80 % in Budapest

 

Religiöse Reformbewegung

- ein wichtiger Bestandteil der Assimilation, den jüdischen Kult der christlichen Religionspraxis anzunähern

- 1868 Jüdischer Kongress hat die schon langst vorbereitete Religionspaltung einbeführt : Neologe – Orthodoxe – Status Quo Ante + Hassidim

- Budapest wurde das absolute Zentrum der ’Neologie’ - des Reformjudentums mit über 90-95 % im Rahmen der Pester Jüdischen Gemeinde (mit der Dohány Strasse Synagoge)

                        - Schwester (Partner)gemeinden in Ujpest, Óbuda, Kõbánya und Buda

                        - getrennte Orthodoxe Gemeinde (Kazinczy Strasse)

- die neologe Dominanz hat in der Tat die weitgehende Säkularisierung des Budapester Judentums vorbereitet

                        - von der Orthodoxie als ’Kippur-Judentum’ angeprangert (gebrandmarkt)

           

3. Modernisierungstrends und Verbürgerlichung

 

            Die strategischen Handlungen der Assimilation können von den Trends der allgemeinen jüdischen Modernisationsbewegungen und Handlungen nicht getrennt verstanden werden. Die oben genannten Handlungsweisen wurden vor allem durch die am modernsten eingestellten jüdischen Gruppen getragen. Diese könnten durch drei Arten von Entwicklungstrends charakterisiert werden.

 

Berufsmobilität und radikaler Umbau der traditionellen Berufstruktur

-          in 1910 bei Budapester Juden schon 62-65 % der aktiven Männern in ’bürgerlichen’ Berufspositionen

-          gegen nur etwa 23-25 % bei örtlichen Christen

o       ’Unabhängige’ (Unternehmer, Besitzbürgertum, usw.)

o       freiberufliche Intelligenz

o       Privatbeamten

- S. Tabelle über Berufstruktur

 

Jüdische ’Überschulung’

-          Quantitativ auf jedem Niveau des Schulwesens, vor allem aber auf den höchsten

Niveaus – S: Tabelle für 1910

o       bei jungen Männern vom 20-24 Jahresalter 64 % der Juden hatten mindestens 4 Mittelschulklassen absolviert gege 26 % der Christen

-          Qualitativ : S. Tabelle

o       Die Schule stellt einen Marktplatz quasi ’reinen Wettbewerbs’ zwischen den teinehmenden gesellschaftlichen Milieus dar

o       Nach offiziellen statistischen Angaben waren jüdische Abiturienten immer durchschnittlich an der Spitze des Leistungsranges

o       Der Unterschied zw. Juden und Christen war immer positiv in jedem Gegenstand und in jeder Gesellschaftsgruppe (nach Vater’s Beruf) – Latein, Ungarisch, Deutsch, Mathematik – ausgenommen Körpererziehung – S. Tabelle

 

Teinahme im Kulturschaffen und im kulturellen Leben (angesichts der nationalen

Hochkultur)

-          allgemein überproportionelle Teilnahme in der hohen Epoche des Assimilationszeitalter

o       Leopoldstadt (Lipótváros) = Synonym vom modernen Kulturzentrum des Landes und der Stadt (Kultursnobismus + Leistungslust + Leistungsfähigkeit + Leistungsanspruch)

 

-          starke Teilnahme im Kulturschaffen universeller Ausdruckssprachen

o       Musikaufführung (50 % der Studenten des Musikkonservatoriums)

o       Malerei (die ’Achter’ – Nyolcak, Vajda L., usw.)

o       Sport (1/3 der Olympiasiegers vor der Schoah)

o       (weniger in der Nationalliteratur, obwohl da auch gab es wichtige jüdische Autoren : Kiss J, Bródy, Molnár, Pap K., Radnóti, Gelléri-Andor, Déry, Füst M. usw.)

o       Kino

 

-          fast monopolartige Erfindung, Schaffung und Beherrschung des kulturindustiellen Unternehmertums

o       kulturelle Presse, literarische Zeitschiftwesen

o       Buchhandel, Verlagswesen, Druckereien, usw.

o       Theaterregie, Theaterdirektion,

o       Kunsthandel

 

- Mäzenatentum, Kunstsammlung, Kunstförderung

Lukács Vater (Bartók), Barons Hatvany-Deutsch, usw.

 

-          Hörerschaft, Publikum, ’Musen’, Klientele des modernen ungarischen Kulturschaffens

o       Jüdische Gefährten und Ehepartnerinnen der meisten grossen Kulturschaffenden Persönlichkeiten (seit Ady bis Kodály)

o       Jüdische Kritiker, Experten, historiker der Moderne (Szerb A., usw.)